Wenn ich Freunde frage, bei welcher Drogerie sie am liebsten einkaufen, antworten mit Abstand die meisten: „dm! Ich gehe nur zu dm!“. Sogar „Ich liebe dm!“ habe ich schon gehört. Aber – wieso eigentlich? Warum begeistern sich Leute dermaßen für einen Ort, an dem man Zahnpasta und Fleckensalz kaufen kann? Natürlich könnte man jetzt direkt eine Diskussion über Ladenbau- und Lichtkonzepte, Preise oder Produktauswahl anfangen. Aber spätestens seit ich Götz Werners Autobiografie gelesen habe, bin ich fest davon überzeugt: in den Filialen lebt der Geist des Gründers. Oder, weniger esoterisch ausgedrückt: bei dm erlebt man, was passiert, wenn eine Unternehmensphilosophie wirklich konsequent gelebt wird.
Persönlich und Universell – Erkenntnisse eines Entrepreneurs
„Der Unternehmer ist ein Realträumer, für ihn ist der Traum wie Realität. Für die anderen ist es ein unerreichbares Luftschloss, aber für den Unternehmer ist es bereits gebaut, und er läuft buchstäblich darin herum.“ Tatsächlich hat Götz Werner, siebenfacher Vater, Gründer von dm, fast 40 Jahre lang Geschäftsführer seines Unternehmens, Investor, Professor und der Himmel weiß was sonst noch alles, jede Menge seiner Luftschlösser am Ende fest in die echte Welt gebaut. In Womit ich nie gerechnet habe erzählt er, wie es dazu kam, dass er heute auf ein beeindruckendes Lebenswerk zurückblicken kann – von der ersten Idee für das Business Modell dm bis heute, gespickt mit unzähligen persönlichen Geschichten und Anekdoten. Dabei gibt er aber nicht einfach irgendwelche platten Erfolgsstorys zum besten. Vielmehr schildert Werner ungeschminkt seine Entwicklung als Entrepreneur – und erzählt von Schlüsselmomenten und Wendepunkten, an denen er Entscheidendes gelernt hat.
Strukturwandel als Chance – Ein Paradebeispiel für disruptive Zeiten
Ein entscheidender Wendepunkt für Werner war, man ahnt es, die Gründung des ersten dm Geschäfts 1973. Nachdem er mit seinen „radikalen“ Ideen zur Zukunft des Drogeriemarktes durchweg auf taube Ohren gestoßen und von seinem eigenen Drogisten-Vater sogar auf die Straße gesetzt worden war, gründete er in Karlsruhe mit wenig mehr als ein paar Quadratmetern Ladenfläche und einigen gebrauchten Kassen sein sein damaliges dm-Startup – und heute größten Drogeriehandel Europas mit über 3000 Filialen. Warum hatte Werner damals, von Null auf Hundert, einen so durchschlagenden Erfolg? Die Antwort: Er hatte zum richtigen Zeitpunkt erkannt, dass dem Einzelhandel, damals eine über-komplexe Angelegenheit mit kleinteiligem Produktsortiment und unverhältnismäßig hohem Serviceaufwand, ein ganz grundlegender Strukturwandel bevorstand. In einer Zeit, in der wir täglich erleben, wie die Digitalisierung gewohnte Strukturen und Businessmodelle durcheinander wirbelt, liest sich Werners Geschichte wie ein Paradebeispiel: Er hatte die bevorstehende Disruption des Einzelhandels kommen sehen und daraufhin ein Prinzip aus der Lebensmittelbranche auf das Thema Drogerie und seine dm-Idee übertragen (die Rede ist übrigens vom damals revolutionäre Discount Prinzip). Als Pionier handelte er dabei, selbstredend, gegen sämtliche Ratschläge seine Umfelds und ohne die Unterstützung unzähliger Drogisten, die die einhellige Meinung vertraten: „Um Gottes Willen, Herr Werner, das ist doch illusorisch. Das kann doch gar nicht funktionieren!“
Das Unternehmen als Prozess – Handlungsfähig bleiben, egal was kommt
Zwei weitere Schlüsselerkenntnisse zum Thema Struktur hatte Werner einige Jahre später, allerdings diesmal nach innen, in sein eigenes Unternehmen hinein. Denn mit der zunehmenden Komplexität von dm wurden auch Unternehmens- und Personalführung immer mehr zur Herausforderung. Nach dem Motto „Wenn sich die Verhältnisse ändern, braucht man andere Fähigkeiten, um erfolgreich zu sein“, besucht Werner daher ein Seminar zur Organisationsentwicklung am Gottlieb Duttweiler Institut, dem ältesten Wirtschafts-Think Tank der Schweiz. Zum einen wird danach für ihn etwas greifbar, was ihm implizit schon klar gewesen war: nämlich, dass ein Unternehmen keine starre Hierarchie ist, sondern ein Prozess. „Es ist nunmal das Wesen des Unternehmens, dass es sich ständig verändert. … Genau an diesem Punkt scheiden sich auch die Geister zwischen Unternehmer und Manager.“ Verinnerlicht man aber die prozessuale Sichtweise, ist man bereit, auf so ziemlich jede Veränderung flexibel zu reagieren; egal, ob sie aus gesellschaftlichem wirtschaftlichen oder politischen Gründen hervorgehen. Zum anderen wird ihm wirklich bewusst, dass ein Unternehmen nicht nur aus Produkten, sondern in aller erster Linie nunmal aus Menschen besteht. Und dass man, soll das Konstrukt „Unternehmen“ funktionieren, den Menschen ernst nehmen und selbstverantwortlich handeln lassen muss. Und zwar, obwohl es, Hand auf’s Herz, vielen von uns sehr schwer fällt „den Mitmenschen genauso viel Verstand, so viel Herz und Anstand zuzutrauen, wie man für sich selbst in Anspruch nimmt.“ Aufgrund dieser Erkenntnisse handelt Werner im Grunde schon früh nach New Work Prinzipien, die heute, ausgelöst durch neue Technologien und eine völlig neue Wissenskultur, überall quer durch die Unternehmen diskutiert werden.
Mit Anthroposophie zum „Why“ – Der Unternehmer und sein Purpose
Der Moment, der in Werners Leben die „entscheidende Wende“ einleiten sollte, ist aber der, als auf besagtem GDI Seminar ein Teilnehmer auf ihn zukommt und fragt: „Sagen Sie mal, haben Sie was mit Anthroposophie zu tun?“ Der anthroposophische Ansatz, entwickelt von Rudolf Steiner, der auch Begründer Walldorf-Schule bekannt ist, verändert Werners Weltsicht entscheidend – und gibt den entscheidenden Anstoß für die Entwicklung der anthropozentrischen dm-Philosophie, die in ihren wesentlichen Zügen bis heute bestand hat. Werner, bis zu diesem Punkt vor allem erfolgsorientiert und -verwöhnt, beginnt, sich zunehmen die Sinn-Frage zustellen – oder begibt sich, wie man es heute ausdrücken würde, auf die Suche nach dem Purpose seines Unternehmens. „Von da an wurde das ganze Unternehmen bewusster“ (…) Wenn man etwas kultivieren will – Stichwort „Unternehmenskultur“, muss auch klar sein, worauf es ankommt.“ Und dieses etwas muss auch ganz konkret benannt sein, denn „Begriffe sind Ideen. Wer die Welt verändern will, muss neue Begriffe finden.“ Dabei formuliert Werner ganz klar, dass es bei einem Unternehmen mit tausenden Mitarbeitern natürlich eine Herausforderung war und ist, jeden Mitarbeiter als Mensch wahrzunehmen, Grundsätze zu leben und und sie jedem Mitarbeiter zu vermitteln. Nach der Überzeugung, dass nur „Sinn Sog auslöst“, hält er aber unerschütterlich an einer der Relevanz einer Unternehmensphilosophie fest – und gibt diese Überzeug auch an seine Nachfolger weiter, als er sich 2008 aus dem operativen Geschäft zurückzieht.
„Womit ich nie gerechnet habe“ oder How to do good business
Der Literaturkritiker Denis Scheck scherzt gerne (und in den meisten Fällen hat er Recht damit): „Kaufen Sie kein Buch, wenn ein Foto des Autors auf dem Cover ist!“ In diesem Fall muss man allerdings sagen: Kaufen sie dieses Buch unbedingt trotzdem. Man könnte noch so viel mehr über die wertvollen Erkenntnisse Werners schreiben, über „Innovationsfitness“, „Evidenzmomente“ oder darüber, wie viel schwerer es ist, alte Gewohnheiten zu „Entlernen“ als sich Neues anzulernen. Stattdessen empfehle ich allerdings, das Buch selbst zu lesen. Denn obwohl es sich Biografie nennt, ist es vielmehr ein „guide how to to good business and lead well“. Und ebenso, wie wir mehr Götz Werners brauchen könnten in unserer Zeit, können wir auch jedes gute Beispiel dafür brauchen, wie man man mit Sinn, Mut und Vision durch durch turbulente Zeiten navigiert.